So habe in den Jahren der Coronakrise fast jeder gegen den extremen Stress „Befürchtungsregimente“ errichtet. Angst vor dem Virus auf der einen Seite und Angst vor den möglichen totalitären Folgen der Maßnahmen gegen die Pandemie auf der anderen Seite wurden nicht nur absolut gesetzt, daraus entwickelten sich auch moralische Imperative, nämlich die jeweils anderen mindestens moralisch zu vernichten. Es sei diese moralisch vergiftete Kommunikation, die Spaltung durch spalterisches Handeln erst hervorbringt: eine „Gesellschaft gestresster und sich gegenseitig Stress verursachender Menschen. Sie ist eine Gesellschaft, die von spalterischem Handeln psychisch verelendet wird“ (Seite 52).
Eine Gesellschaft kann gar nicht gespalten sein, schreibt Andrick, dann sei es keine mehr. Fragt sich bloß, worin denn die Einheit einer Gesellschaft besteht. Doch gewiss nicht in Einigkeit. Eher darin, dass sie Differenzen nicht nur zulässt, sondern sogar schützt. Sie regelt Konflikte, schafft Austragungsorte und schützt ein gewaltiges Spektrum an Überzeugungen, Moralen, Religionen oder Interessen. Man könnte auch sagen, sie stellt die Konflikte still, ohne ihnen den Ton abzudrehen.
Es gab — und so lange ist das nicht her — in der so regulierten Gesellschaft erhebliche Polarisierungen in den verschiedensten Fragen, im moralischen, politischen, sozialen oder religiösen Gefüge der Gesellschaft, doch sie mussten nicht gelöst oder versöhnt werden. Es durfte knirschen. Nur einige Kontroversen erhielten eine große Bühne: etwa die Politik, und hier entscheiden zuletzt Machtverhältnisse, die auf demokratischer Legitimation beruhen sollten. Man darf vielleicht sagen, dass der Perimeter der Einheit fast die ganze Gesellschaft umfasste. Allen Konflikten, Konfrontationen, Entgleisungen oder Berufsverboten zum Trotz: In der Bundesrepublik hat bis zur Jahrtausendwende etwas stattgefunden, das aus heutiger Sicht paradiesisch anmutet.
Im Rückblick kann man ziemlich genau nachweisen, wie sich der von der Gesellschaft und ihren Institutionen geschützte Raum ab ungefähr 2000 immer weiter verengte, immer mehr Ansichten des Feldes verwiesen wurden, immer weniger Differenz erlaubt oder gar erwünscht war.
Bis schließlich seit März 2020 hochmoralisch verkleidete Absoluta im Handstreich die Herrschaft übernahmen — zunächst und für fast drei Jahre das Dogma Gesundheit.
Die Fragen allerdings, warum selbst bei erheblicher gesundheitlicher Gefahrenlage nicht mehr diskutiert werden darf und warum Maßnahmen ergriffen wurden, die nie in einem Verhältnis zur Gefährdung standen noch jemals zuvor vorgesehen oder empfohlen wurden — im Gegenteil teilweise sogar als kontraindiziert galten —, diese Fragen gingen im Tumult unter und sollten sie wohl auch. Nichts rechtfertigt das Verbot von Diskussionen. Das Grundgesetz gilt immer, stipuliert das Grundgesetz. Die Missachtung dieses Prinzips war schlicht ein Verbrechen.
Mit anderen Worten: Im März 2020 kaperte ein Regime die Gesellschaft und ließ ihr nur eine Wahl — Zustimmung oder Ablehnung. Wobei von Anfang an klar war, dass Ablehnung oder Kritik mit Kriminalisierung oder Pathologisierung bestraft werden, bestenfalls wurde Duldung gewährt — natürlich nur auf Bewährung.
Auf diese Weise entstand eine Parallelgesellschaft. Das herrschende Coronaregime verbot einem nicht unerheblichen Teil der Gesellschaft den Zutritt, ermöglichte nicht einmal die Anrufung der Oberwelt. Politik, Justiz und Medien riefen zur Jagd auf die Widerständigen auf. Viele Menschen verloren ihre Arbeit, Tausende wurden von Hausdurchsuchungen heimgesucht, „Wehrhafte“ beschimpften uns auf der Straße.
Das alles hat wenig mit infizierten Kommunikationen gestresster Menschen zu tun. Die Kommunikation wurde vorsätzlich und systematisch von den tragenden Säulen der Gesellschaft — Politik, Justiz, Medien und Wissenschaft — zerstört. Die Kommunikation ist nicht daran zerbrochen, dass wir moralisch aggressiv miteinander gesprochen hätten, sondern daran, dass wir gar nicht miteinander sprechen durften. Meine Argumente wurden nicht nur nicht gehört, sondern von vornherein als gefährlich und krank verurteilt — mit den entsprechenden Konsequenzen. Nachweislich wurde mit moralisch toupierten Argumenten gespalten. Auf diese Weise hat schätzungsweise ein Drittel der Gesellschaft allen Schutz verloren.
Eine andere Frage ist, warum eine Mehrheit sich diese Diktatur moralisch zu eigen gemacht hat und zum Angriff auf die anderen übergegangen ist. Andrick hat vermutlich recht, wenn er glaubt, diese neuen Gesinnungstäter hätten unter den Umständen grausam organisierter Angst Zuflucht unter den eindeutigen Ansagen des Coronaregimes gesucht und gefunden.
Es gab keine Meinungsverschiedenheit, weil jene Mehrheit sich weitgehend geweigert hat, sich auch nur bescheidene Kenntnisse anzueignen. Ihre Moral war die Staatsraison, und Andersmeinende waren nicht mehr vor ihnen geschützt. Wir wurden geduldet unter der Bedingung, unter uns zu bleiben. Das war und ist die kommunikative Gefechtslage.
Andrick hat natürlich vollkommen recht, zur Zeit vergiftet ein widerwärtiger Moralismus jedes Gespräch und die gesamte Gesellschaft: Putin ist das Böse schlechthin und wird gar mit jedem Tag noch böser; die Rettung der Menschheit vor der Glut des Klimawandels darf nicht durch sachlich begründeten Zweifel an der CO2-Dämonisierung verhindert werden. Und die immensen Folgekosten unserer Beteiligung am Ukrainekrieg werden ausschließlich in moralischer Münze verrechnet — die Toten auch.
Eine rein moralisch begründete Staatsraison zwingt uns, dem Menschenschlachten in Israel zuzuschauen. Wer die Forderung nach Frieden nicht einleitet mit der Feststellung, dass die Hamas angefangen hat mit einem barbarischen — also jede Reaktion rechtfertigenden — Überfall, der fliegt raus. Wir leben in quasitotalitären Zeiten. Die herrschende Oberwelt der Rechtschaffenen und „Wehrhaften“ (Spiegel) auf der einen Seite, der Rest sind die neuen Faschisten.
Kaum einer hat den drohenden Totalitarismus früher festgestellt als Michael Andrick. Doch stand für ihn außer Frage, dass diese Spaltung politisch intendiert und realisiert wurde. In seinem Buch vollzieht er eine Neuinterpretation der totalitären Genese, vermutlich auf der Suche nach einem Ausweg. Die gespaltene Gesellschaft verstetigt die Spaltung durch moralverseuchte Kommunikation. Und allein durch moralische Abrüstung scheint ihm Abhilfe möglich. Nur so könne ein bereits in Umrissen sich anbahnender Totalitarismus abgewendet werden. Denn Moralismus tendiere stets zum Gesinnungsdiktat.
Aus eigener Erfahrung und aus eigenen Leben: Mein Moralismus oder mein moralischer Herrschaftsanspruch hält sich in Grenzen. Ich wurde moralisch abgeurteilt und habe darauf mit mühsam erarbeiteten Argumenten zu antworten versucht. Von den Institutionen und Medien dieser Gesellschaft wurde ich seitdem unter Verdacht gestellt, und man verweigert mir jeglichen Zugang zur Oberwelt. Stets lebe ich Erwartung von Schlimmerem.
Wenn der Stand der Dinge das Produkt entgleister Verständigung sein soll, dann verlagert Andrick die Probleme aus dem politischen Raum in kommunikationstherapeutische Verständigungsseminare. Wir alle müssten dann an Abrüstung in Sachen Moralismus arbeiten, um von da aus eine Sachebene zu finden. Wie man den Moralismus exorziert, um Sachverhalte besser verstehen und lösen zu können, versucht Michael Andrick an ein paar Beispielen zu zeigen.
Er erinnert an die, wie er sagt, „Spekulationskrise“ von 2008, die schnell zu einer Bankenkrise, einer Krise des Finanzsystems umdefiniert wurde, „dessen ‚systemrelevante‘ Akteure zu retten ‚alternativlos‘ und natürlich im Interesse einer um die Ersparnisse bangenden Bevölkerung sei. Das Finanzsystem, das in seiner neoliberal deregulierten Gestalt diese Krise hatte entstehen lassen, hat diesem moralisierenden Rettungs-, Schutz- und Stabilitätsnarrativ zufolge eine unerschütterliche Bestandsgarantie“ (Seite 134).
Es wird nicht ganz klar, warum diese Argumentation besonders moralisierend sein soll. „Alternativlos“ ist ja gerade der Versuch einer Sachlogik — wenn auch eher als Behauptung. Doch nach Andrick verhindere diese moralgestützte Argumentation eine sachgemäße Analyse der „Finanzkrise 2008“. „Die simple Gut-oder-Böse-Einordnung moralisierender Polemik hat im Angstklima einer moralindurchseuchten Gesellschaft die Funktion, dem Sprecher die sichere Einordnung in ein schützendes Kollektiv zu bieten. Das wird von den allermeisten Menschen stets als dringlicher empfunden als inhaltliche Differenzierung“ (Seite 135). Anschließend liefert Andrick einige Stichworte, wie „inhaltliche Differenzierung“ aussehen könnte, also welche systemischen Schieflagen in Wahrheit die Finanzkrise produziert haben: toxische Finanzprodukte, Vermögensblasenbildung durch billiges Zentralbankgeld, fehlende Unabhängigkeit der Ratingagenturen und so weiter.
Politik- und Finanzmarktakteure dürften durchaus umgehend und vollständig die Gründe für den Crash verstanden haben. Die hatte Max Otte bereits 2006 in seinem Buch „Der Crash kommt“ ausführlich geschildert. In der Konsequenz hätten die Profiteure Schuld und Schulden übernehmen und die Finanzmärkte so umgestalten müssen, dass derartige Crashs in Zukunft ausgeschlossen sind. Um das zu verhindern, hat man die Menschen mit großen Rettungsplänen beruhigt, die nicht nur alternativlos seien, sondern auch die Ersparnisse der Bürger sichern sollten. Unter den Tisch fiel dabei, dass die Bürger Unsummen für die Rettung der Finanzmärkte bezahlen mussten, damit diese danach fast ungebremst weitermachen konnten wie bisher.
Doch mit Sicherheit hat dieser kalkulierte Vertuschungsversuch nicht die geringste Ähnlichkeit mit „simpler Gut-oder-Böse-Einordnung moralisierender Polemik im Angstklima einer moralindurchseuchten Gesellschaft“ zu tun. In Wahrheit war es eine moralische Entscheidung, die man sachlich camoufliert hat, um die Schuldigen nicht haftbar zu machen und ihre Finanzspielplätze nicht abzureißen.
Nur wenn man den Skandal der Finanzkrise moralisch geächtet hätte, hätte man die Verantwortlichen zur Verantwortung ziehen und ihre Instrumente vernichten können.
Im herrschenden Moralkalifat unterbinden moralische Imperative jede Verständigungskommunikation. Die Bürger, die sich im Schatten dieses Moraldiktats geborgen fühlen, sind gar nicht mehr ansprechbar für ganz normale Kontroversen. Dieser politisch hergestellte und gewollte moralische Absolutismus lässt sich nicht durch Entmoralisierung abbauen. Wir kommen nicht ohne Moralen aus — der Plural ist moralisches Grundgesetz.
Die Moderne hat erhebliche Probleme mit der Moral, sie ist gewissermaßen ihr blinder Fleck — sowohl in praktischer Hinsicht als auch in der Theorie. Im alltäglichen Verständnis erklären wir Moral zur Privatsache, die in den Untiefen eines Gewissens, religiöser Leidenschaft, sittlicher Dressur, dem Charakter oder dem Unvordenklichen gründe. Die Philosophie hat die Moral ins kognitive Offshore-Gebiet verklappt; sie steht außerhalb ableitbarer Gründe, dennoch soll sie die Formen menschlichen Zusammenlebens sittlich regulieren, dennoch soll sie dem Individuum Sinn verleihen. Theoretisch willkürlich stiftet sie die strenge Ordnung der Mittel. Andrick nennt als Beispiel für ein typisch moralisches Problem die Frage, ob man Abtreibung erlauben darf oder nicht. So scheint es, als hätte die Moral ihre speziellen Auftrittsgebiete: da, wo wir entscheiden müssen, ohne Gründe zu haben.
Das Problem ist nur, dass wir eigentlich nie Gründe haben.
Ich sitze nie am Steuerknüppel meines Lebens und weiß, wo es langgeht. Ich sitze am Steuerknüppel eines hochkomplexen Blindflugs. Wir treffen kaum eine Lebensentscheidung auf der Grundlage von argumentativen Begründungen, sondern im Licht der von uns gesetzten Werte, die uns begründen sollen.
„Die Moral ist das System der Zwecke“, schreibt Jean-Paul Sartre 1940 in seinen „Kriegstagebüchern“. Die Entscheidung, zum Mond zu fliegen, hat hochkomplexe technische und wissenschaftliche Forschungen auf den Weg gebracht, die das ermöglichen. Doch die Entscheidung ist eine moralische — man kann sie mit politischen, militärischen oder wissenschaftlichen Absichten begründen, aber die sind ihrerseits wieder moralisch. Werte, die unserem Handeln Sinn geben. Jedenfalls hat nicht der Stand der Technik den Wunsch begründet, zum Mond zu fliegen, sondern umgekehrt hat die Entscheidung, zum Mond zu fliegen, die Techniken hervorgerufen, die das erst ermöglichten.
Man ahnt, warum die Moral wie ein Stachel im Fleisch der Moderne steckt. Der moderne Anspruch auf Rationalität, auf Kontrollierbarkeit, auf Allmächtigkeit wird insgeheim stets und ständig von moralischen Werten oder Zwecken irritiert, die weder Rationalität noch Kontrollierbarkeit und Allmächtigkeit aufweisen, aber diese in Gang bringen.
Insofern hat Michael Andrick vollkommen recht: Moral ist ein überaus mächtiges Instrument. Aber es genügt nicht, sie abzuklemmen, man muss ihr einen Verhandlungsrahmen geben. Damit haben wir schon mal ziemlich gute Erfahrungen gemacht. Die Entscheidung gegen Totalitarismus ist eine moralische Entscheidung, die Entscheidung für strenge Gesundheitsmaßnahmen ist eine moralische Entscheidung. Als solche müssten sie verhandelt werden. Das ist in keiner Weise geschehen. Man hat eine Moral zur allein gültigen erklärt und diesen Anspruch mit politischer, polizeilicher und medialer Gewalt exekutiert. Ein moralisch verkleideter Putsch hat die Herrschaft an sich gerissen und umgehend die Kommunikation so weit zerstört, dass Verhandlungen einstweilen ausgeschlossen sind. Und die Putschisten haben ihre Herrschaft über den Initialkonflikt hinaus verlängert.
Es gilt nur eine Moral, und wer sich widersetzt, wird zum Faschisten erklärt und bald so wie einer behandelt. Man muss daraus den Schluss ziehen, dass da ein neuer Totalitarismus im Vormarsch ist, der nicht mit sich reden lässt.
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